Heinz Wegmann

Der Oldie des Monats

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SEPTEMBER 2023

A person who eats meat

A person who eats meat
wants to get his teeth into something
A person who does not eat meat
wants to get his teeth into something else
If these thoughts interest you for even a moment
you are lost

Öpper wo Fläisch isst

Öpper wo Fläisch isst
wott mit siine Zäh nöimed driibiisse
Öpper wo e käi Fleisch isst
wott mit siine Zäh nöimed andersch driibiisse
Wänn diich söttigi Gedanke interessiered
nur äis Sekündli
bisch verlore

Aus: Leonard Cohen Poems «Verussen isch chalt», Schwiizertüütsch vom Heinz Wegmann
Berechtigte Lizenzausgabe, zweite ergänzte Auflage, 2010

APRIL 2024

Da sein

Der grosse Fisch erzählte
dem kleinen Fisch von früher:
Damals warst du noch nicht
auf der Welt.
Da fragte der kleine Fisch:
Wo war ich,
als ich noch nicht auf der Welt war?
Ich weiss es nicht,
antwortete der grosse Fisch,
du warst einfach noch nicht da.
Es gab dich einfach nicht.
Wir konnten dich nicht sehen,
Wir konnten dich nicht hören,
Wir konnten dich nicht spüren.

Der kleine Fisch sagte:
Aber irgendwo muss ich doch gewesen sein.
Vielleicht habe ich mich irgendwo versteckt.
Ja, wahrscheinlich habe ich irgendwo gewartet,
bis ich auf die Welt kommen konnte.
Ja,  wahrscheinlich,
sagte der grosse Fisch,
aber die Hauptsache ist doch,
dass du jetzt da bist,
dass wir dich jetzt sehen,
dass wir dich jetzt hören,
dass wir dich jetzt spüren können.

Und er sah,
wie die Augen des kleinen Fisches leuchteten,
und er hörte,
wie das Wasser um den kleinen Fisch herum
leise rauschte
und er spürte die kräftigen Wellen,
die der kleine Fisch hinter sich zurückliess.

Aus «Das Regenbogenzelt», Pro Juventute, Zürich, 1983

Die bisherigen «Oldies des Monats»

MÄRZ 2024

A person who eats meat

A person who eats meat
wants to get his teeth into something
A person who does not eat meat
wants to get his teeth into something else
If these thoughts interest you for even a moment
you are lost

Öpper wo Fläisch isst

Öpper wo Fläisch isst
wott mit siine Zäh nöimed driibiisse
Öpper wo e käi Fleisch isst
wott mit siine Zäh nöimed andersch driibiisse
Wänn diich söttigi Gedanke interessiered
nur äis Sekündli
bisch verlore

Aus: Leonard Cohen Poems «Verussen isch chalt», Schwiizertüütsch vom Heinz Wegmann
Berechtigte Lizenzausgabe, zweite ergänzte Auflage, 2010

FEBRUAR 2024

Tischgespräch

Da gab es zwei, die sich über einem Essen beweisen wollten, dass sie einander mehr zu sagen hatten als nichts.

Aber kaum hatten sie Platz genommen, begann der eine sich über den aufgetischten Weisswein zu äussern, seine frische, strohgelbe Farbe erwähnend, seinen schlanken, feingliedrigen Körper lobend. Besonders hervorzuheben sei auch die grasige Süffigkeit, sowie die Spritzigkeit des leicht fruchtigen Aromas. Der andere warf ein, der etwas stahlige Geschmack erinnere ihn eher an Katzenpisse, aber da wurde er harsch zurecht gewiesen mit dem Hinweis, diese vielleicht etwas ruppige Säure sei gewollt und erinnere doch eher an frisch geschlagenes, grünes Holz.

Das brachte das Gespräch vorerst zum Erliegen.

Etwas später, beim Hauptgang, wurde Rotwein aufgetragen und sofort brachte der erste die Rede auf dessen angenehme Völle, und bevor der andere dazu ein Wort sagen konnte, fuhr er begeistert fort, diesen Wein fände er sehr mundig, um nicht zu sagen vollmundig, charaktervoll und vollendet körperreich, ja, er verstieg sich zu Ausdrücken wie «blaubeeriges Nasenspiel» und «nach Nelke  riechende Würzigkeit», die er zu erschnuppern vorgab.

Ob er denn nicht etwas gar wuchtig sei, wagte der andere einzuwerfen, aber sofort wurde er auf die samtige Textur  hingewiesen, die runde Süsse, gefolgt von dem nachhaltigen Abgang bzw. dem Nachhall von gerösteten Himbeerkernen, die diesem Tropfen innewohne.

Füllig fände er ihn eigentlich schon, meinte nun der andere, vielleicht sogar etwas mollig, aber bei dem Wort mollig zuckte der erste zusammen, als sei er persönlich getroffen worden und er verwendete die nächsten fünf Minuten dafür, seinem Gegenüber klarzumachen, dass ein grosser Unterschied bestehe zwischen mollig und muskulös, und dieser Wein sei eben muskulös, aber niemals mollig, dafür sei er doch mit einer reintönigen Blume ausgestattet, einem geradezu abgeklärten Bukett ! Ob er denn solcher Finess gegenüber unempfänglich sei, fragte er ihn erstaunt, und ehe der andere antworten konnte, fügte er nahtlos an, dies sei ganz einfach ein grosser Wein, und ob er denn die leichte Kaffeenote und den feinen Hauch von Blackberry Jam, gereift im Eichenfass, nicht wahrnehmen könne, und als der andere nur etwas ratlos die rechte Augenbraue hochhob, klopfte ihm der erste auf die Schulter und meinte begütigend, er werde mit der Zeit schon noch herausfinden, was ein runder und zugleich vielschichtiger Tropfen sei, und er wünsche ihm von ganzen Herzen, dass er einen solchen harmonischen und nuancenreichen Trinkgenuss auch einmal erleben dürfe, denn ein solcher käme eigentlich nichts anderem gleich als einem Gaumenevent, einem oralen Orgasmus!

Auf diesen Worterguss hin verstummte der andere endgültig, er fühlte sich plötzlich plump und matt, er schluckte drei Mal leer, mit tauber Schnauze und derber Nase, und nahm dabei in seinem Mund einen schalen, flachen und pelzigen Geschmack wahr, der ins Fuselige, ja Faulige ging, bezahlte sauer, um nicht zu sagen bissig, seinen Anteil und machte seinerseits einen  kurzen, unsauberen Abgang, unterdrückte dabei die Frage, die ihm auf der Zungenspitze lag, ob er denn eigentlich den samtig eleganten Gaumen, den sehr langen Körper, den reifen Charme, die Opulenz und die tiefgründige Balance seiner eigenen Ehefrau nicht wahrnehmen könne, er jedenfalls habe deren Krachmandelaroma und ihr facettenreiches Butter-, Pfeffer- und Honigduftnotenspiel letzte Nacht wieder einmal voll ausgekostet.

Aus «A la carte», IKOS Verlag, 2005

JANUAR 2024

Kulturkampf

Direkt vor dem Fenster, auf dem rechteckigen Holzplättli,
standen in Reihen ausgerichtet die Emmentaler-Möckli, auf-
gespiesst von bolzengeraden Zahnstöcherli mit Schwyzer
Fähnli. Alle waren zusätzlich ausgerüstet mit einem Gürkli-
stückli oder einem Redli einheimischer Rüebli.
Auf der porzellanweissen Designer-Platte gleich daneben
suhlten sich die Sushis in ihrem eigenen Saft, eine ungleich
höhere Zugriffsquote erzielend, was die Bröckli aus dem
Emmental, die schon leise vor sich hintrockneten,
noch eine Spur gelber aussehen liess

 

 

 

und ihre Löcher noch etwas löcheriger.

Aus «Muttermal und Augenweiss», edition apropos, 2021

DEZEMBER 2023

12 Zeilen Roman

Da war einer, dem das Glück nicht eben hold gewesen war.
Von Kindsbeinen an hatte er hart arbeiten müssen und wenig
zu lachen gehabt.
Menschen und Tiere hatte er etwa gleich liebgewonnen.
Zum Geld hatte er ein vorübergehendes Verhältnis.
Er wurde von den andern geschätzt, weil er regelmässig,
aber nicht zu oft zum Coiffeur ging.
Grösserer Vergehen hatte er sich nicht schuldig gemacht.
Gott hatte nie Notiz von ihm genommen und er umgekehrt
auch nicht von ihm.
Als er starb, waren viele Leute traurig
und einige nicht.

Aus «Sag mir wo die Blumen sind», edition apropos, 2017

NOVEMBER 2023

Der grosse alte Fisch

Der kleine und der grosse Fisch
spielten zusammen.
Da sahen sie auf einmal
den grossen alten Fisch.
Langsam schwamm er
an ihnen vorbei.
Seine Flossen zitterten leicht.
Seine Augen waren ganz matt.
Still blieb der grosse alte Fisch
im Wasser stehen.

Was hat er?
fragte der kleine Fisch.
Warum bleibt er stehen,
so mitten im Wasser?
Er ruht sich aus,
antwortete der grosse Fisch.
Seine Flossen sind müde
vom vielen Schwimmen,
und seine Augen sind matt
vom vielen Schauen.

Was macht der grosse alte Fisch den ganzen Tag?

Er isst ein paar Brocken,
und er trinkt ein paar Tropfen,
und er schwimmt etwas,
und er schläft etwas.

Will der grosse alte Fisch
nicht mit anderen Fischen spielen?

Vielleicht schon.
Aber man braucht Freunde zum Spielen.
Der grosse alte Fisch ist allein.
Seine Freunde sind schon alle gestorben.
Und die jungen Fische haben meistens keine Zeit
für den grossen alten Fisch.

Vielleicht ist der grosse alte Fisch
auch lieber allein…
Alte Fische wollen manchmal lieber allein sein.
Weil sie ihre Ruhe haben wollen.
Oder weil sie enttäuscht sind
von den anderen Fischen.

Einmal laden wir den grossen alten Fisch
zu uns ein,
sagte der kleine Fisch.
Wir geben ihm das beste Wasser zu trinken.
Glaubst du, dass er kommt?

Aus: «Das Regenbogenzelt», Atlantis Kinderbücher bei Pro Juventute, 1983

OKTOBER 2023

Aus einem neuen Rechenbuch

2/3 der Uferlandschaft
an den schweizerischen Seen
sind überbaut

Der Rest
ist
Privatstrand

Rechne

Aus: «Wartet nur» Verlag Sauerländer, 1976

SEPTEMBER 2023

Do not forget old friends

Do not forget old friends
you knew long before I met you
the times I know nothing about
being someone
who lives by himself
and only visits you on a raid

Vergiss die alte Fründe nööd

Vergiss die alte Fründe nööd
wo kännt häsch bevor miich kännt häsch
Vergiss diini Ziite nöd
won ich nöd kännt han
won ich eifach öpper gsii bin
won eläige gläbt hät
und uf en churze Sprung
bi diir verbiicho isch

Aus: Leonard Cohen Poems «Verussen isch chalt», Schwiizertüütsch vom Heinz Wegmann
Berechtigte Lizenzausgabe, zweite ergänzte Auflage, 2010

AUGUST 2023

Warten

Da war einer, der tat alles, was er tat,
mit einer flachen Hast, als wolle er das,
was vor ihm lag, möglichst rasch und ohne Schmerz
hinter sich bringen.
Vor allem das Schöne konnte er kaum erwarten,
lief schreiend darauf zu, trieb es in wilden
Sprüngen vor sich her, immer weiter von sich weg,
bis es in der leuchtenden Stille entschwand
und nicht mehr zurückkehren wollte,
was seine Hast nur immer wilder machte
und seinen Schmerz grösser.

Aus «Sag mir wo die Blumen sind», 2017

JULI 2023

Sorrento (Italien), zwischen 19.16 und 19.21 Uhr

Durch die geöffneten Fenster
meines Hotelzimmers:

Das Geklappere eines Tellers
Das Gerücke eines Stuhles
Das Geweine eines Kindes
Das Geklingle eines Telefons
Das Gekeife einer Frau
Das Gescheppere eines Kübels
Das Gekichere eines Mädchens
Das Geschreie einer Katze
Das Gefluche eines Mannes
Das Geheule eines Hundes
Das Gepfeife eines Passanten
Das Gemurmel eines Marktes
Das Geplärre eines Radios
Das Gestampfe eines Basses
Das Gestöhne eines Liebespaares
Das Getröpfle einer Dachrinne
Das Gehämmere eines Werkzeugs
Das Gebimmle einer Glocke
Das Getute einer Sirene

Und über allem
das betörende Gedufte
eines Gelages

Genauso genauso genauso
müsste mein Gedichte sein

ein Gedicht sein

n Gdcht sn

ei ei ei

Aus «Sag mir wo die Blumen sind», 2017

JUNI 2023

En Vogel maale

Zeerscht
es Chefi maale
mit emene offne Tüürli
dänn
öppis Fiins maale
öppis Eifachs
öppis Schööns
öppis Nützlichs
für de Vogel
dänn
d Liinwand an en Baum anehänke
imene Garte
imene Wäldli
oder imene Wald
sich hinder em Baum verstecke
käs Wörtli säge
käs Mücksli mache
Villicht chunnt de Vogel gschnäll
aber es chan auch jaarelang gaa
bis er chunnt
Nöd de Muet verlüüre
warte
lang warte
villicht jaarelang warte
ohni as Bild z tänke
Wänn dänn de Vogel chunnt
wänn er überhaupt chunnt
müüslistill sii
warte bis de Vogel im Chefi isch
und wänn er dinen isch
liislig s Tüürli vom Chefi mit em Pinsel zuetue
dänn
s Chefigitter naa di naa duur tue
uufpasse
nöd a d Fädere vom Vogel anechoo
Dänn
de Baum maale
de schönscht Ascht maale
für de Vogel
au di grüene Bletter maale
und de Wind wo blaased
und d Sune wo schiint
und d Töön vo de Tier im Graas
und d Wärmi vom Summer
und dänn wider warte
bis de Vogel aafangt singe
Wänn de Vogel nöd singt
isch es es schlächts Zeiche
es Zeiche dass s Bild schlächt isch
Aber wänn de Vogel singt
isch es es guets Zeiche
es Zeiche dass s Bild fertig isch
Jetz ganz süüferli
em Vogel eis Fäderli uuszupfe
und demit diin Name
imenen Egge vom Bild aneschriibe.

Aus «Vo Herzchlopfe und Hüenerhuut», 2012
Übersetzung von Jacques Prévert «Pour faire le portrait d’ un oiseau» aus: Paroles

MAI 2023

Postskriptum

Siis ganze Läbe
hät er wele
i de Ziitig
staa

Bi de Todesaazeig
häts em
dänn äntli
glanget

Esoo vil Lüüt
sind a siini Beerdigung
choo

Schaad
hät er das
nöd chöne
live
mit
erläbe

Aus «Vo Herzchlopfe und Hüenerhuut», 2012

APRIL 2023

Ändstation

Ich han dänk au
miini Modäll
wien en Kunschtmaaler

Emal – es isch scho es Ziitli heer –
han i vom Tram uus
de Fraue naaglueget
won a de Haltistell
ii- und uusgstige sind

Uf eimal
isch mer vorne im Tram
e Frau is Aug gstoche
woni gar nöd gsee han iistiige
ganz elei isch sie deet gsässe
und ganz zfride hät sie uusgsee
Sie hät mer sofort schuurig gfale
aber im gliiche Momänt
han i gsee
dass es miini Frau gsii isch

Ganz zfride bin i a de Ändstation
zuenere ane und ha sie liislig gfrööget:
Stiigezi au daa uus?

Aus «Vo Herzchlopfe und Hüenerhuut», 2012
Übersetzung von Jacques Prévert «Voyages» aus: HISTOIRES, Editions Gallimard, 1963

FEBRUAR/MÄRZ 2023

Choo und Gaa

Zeerscht chömed mer uf d Wält
glii gömmer uf zwei Bei
und bald scho chömed mer i d Schuel
dänn gömmer i d Lehr und is Ussland
und mängsmal mit em Chopf dur d Wand

Mer chömed in Schwung
und mängsmal i Schwierigkeite
mer gönd is Büro oder i d Chile
mer chömed wiiter oder au nööd
mer gönd für öpper dur s Füür
oder chömed vo öpperem nüme loos
dänn gömmer is Bett
mängsmal z spaat und ämel nöd elei
mer chömed obenabe
oder gönd halbe druff
mer gönd is Kafi oder i d Feerie
und öppe haarscharf am Läbe verbii

Bald gömmer nu na süüferli
uf tummi Gedanke chömed mer nüme
mer gönd nu na chli uf Bsuech
und chömed nüme z spaat hei

Mer lönd öis mängsmal la gaa
und chömed immer weniger druus
so gömmer langsam am Änd zue
und am Schluss chömed mer ali in Bode

Wo mer dänn na here gönd
weiss niemer
und ob mer wider chömed
wüssed mer au nöd

Esoo isch
uf dere Wält
eis cheibe Choo
und Gaa

Aus «Vo Herzchlopfe und Hüenerhuut», 2012

JANUAR 2023

Neujahr

Sekunden vor Mitternacht
sinkt das alte Jahr
wie vom Blitz getroffen
hinter mir
in sich zusammen
für einen Moment
sehe ich noch
seine emporgereckte rechte Faust
in die Nacht ragen
ehe es vom einsetzenden Glockengeläute
endgültig niedergeschlagen wird

Aus «Muttermal und Augenweiss», 2021

DEZEMBER 2022

Weihnachten steht vor der Tür

Jedes Jahr, wenn sich dieser Satz kurzatmig aus dem Jahreszeiten­wortbrei heraushebt, kann ich nicht anders: Ich gehe zur Tür und schaue nach. Und da steht sie doch tatsächlich, schön heraus­ge­putzt, etwas schief lächelnd, und ich bin zuerst einmal über­rascht, wie früh sie dieses Jahr gekommen ist, mir scheint, sie käme jedes Jahr früher, aber ich bitte sie mit einer automatischen Geste herein, und dann steht sie eine Zeit lang einfach bei mir rum, und ich weiss gar nicht, was ich mit ihr anfangen und ob ich ihr etwas anbieten soll, eine Mandarine vielleicht oder eine Dattel, aber da kommt mir in den Sinn, dass ich so etwas noch gar nicht im Haus habe, und ein Bier oder ein Glas Wein anzubieten, käme mir etwas seltsam vor, also lächeln wir einander zu, und ich sehe, dass ihr Lippenstiftrot etwas verschmiert ist, und jetzt im Licht erkenne ich auch, dass ihre Gesichtszüge seltsam starr wirken, das kommt sicher von den vielen Liftings, die sie hinter sich hat, denke ich, und meine anfängliche Überraschung weicht immer mehr einem Gefühl, das man am ehesten als eine Mischung aus Nachsicht und Mitleid beschreiben könnte, und ich schliesse die Tür, die sie halb offen gelassen hat, schnell hinter ihr zu, noch immer sagen wir kein Wort, schauen uns nur aus den Augenwinkeln an, und aus lauter Verlegenheit zünde ich eine Kerze an.

Aus «Muttermal und Augenweiss», 2021

OKTOBER/NOVEMBER 2022

E chli sterbe

Ligg zu mer hii, mach d Auge zue
s isch Ziit jetz für es Ziitli Rueh
hinder de Wimpere es liisligs Zittere
wie d Luft im Summer vor em Gwittere.

Bi diim Ohr, es bitzli une
deet schmöckts nach Huut und Haar und Sune
und diini Elle, s isch nöd gloge,
die macht en choge schöne Boge.

Diini Bruscht in miinere Hand
isch wie en Huufe laue Sand
ladt ii zum zöikle, goiggle, chüschele
vo diner Schööni e chli abzläschele.

Muusbei elei und wie zwei Stei
sind miini Bei ohni diini Bei
vo diine allerliebschte Chnüü
hettets am allerliebschte drüü.

Und wänn d mich streichlisch mit de Hand
chunsch abe bis uf d Chnochewand
im Hirni s Achtibähnli drum
pfured uuf und ab und zringelum.

Aber s allerschönschte Sunneplätzli
isch für es warms und wulligs Chätzli
vor Luscht e chli sterbe, esoo wämmers haa
doch das gaat niemer öppis aa.

Aus «Vo Herzchlopfe und Hüenerhuut», 2012

JULI 2022

Aufruf zur Rettung der (Mund)-Artenvielfalt

Schweizweit sind heute all Tag e ganzi Schwetti Wörter in Gefahr
eifürallimal zu verschwinden.
Sie werden hinderüxli verdrängt durch
so neumöödigi Sprachen
wie Hochdeutsch und Englisch.

Folgende Wörter sind naadisnaa von der Zerstörung
und Ausrottung bedroht und sollten unbedingt unter Artenschutz gestellt werden und zwar schlegelawegge:

Aus der Gattung der Substantive

de Giizgnäpper
de Plagööri
de Schutzgatteri
de Pfüderi
de Suufludi
de Brüelätsch
de Lamaaschi
d’ Gugelfuer

Kaum öpper – oder fascht niemert – verwendet diese Wörter
noch in seiner Alltagssprache.

Aus der Familie der Adjektive
sollten gerettet werden:

muckmüüslistill
gschnäderfreesig
uurgmüetli
rumpelsurig
speerangelwiitoff
zunderobsi
lümpelig
mudrig

Ausser es paar alti Chnoche kennt ja hüttzutags niemand mehr
die Bedeutung dieser Wörter.

Akut bedroht ist aber auch die Spezie
der Verben.
Insbesondere sötted geschützt werden:

schmürzele
schmegele
meegele
guene
chosle
fuere
abläschele
umepäschele

Söttigi seltene Exemplare
trifft man leider nur noch irgendwo
im Binätsch usse

Tüenzi also unsere Bemühungen
im Bereich Mundartschutz unterstützen.
Durch konsequente Verwendung
von Ausdrücken wie
rübis und stübis
i d’Schue blaase
büürschted und gschtreeled
du verbrännti Zäine
es goldigs Nüüteli und es silberigs Nienewägeli
sowie durch Ihre Mitgliedschaft in öisem Club
Mundart-isch-geil-und-git-e-gueti-Luune
abgekürzt MIGUGEGL
leisten Sie einen wichtigen Beitrag
zur Erhaltung unseres Sprachschatzes.

Damit auch kommende Generationen
in unserer Muttersprache ploderen und laferen können.
So fühlen wir uns under öiseräins
puurlimunter und vögeliwohl
aber villicht au
es bitzeli
muetterseeleneläi.

Gezeichnet Heinz Wägme (eeh … Wegmann)


Aus «Sag mir wo die Blumen sind»
, 2017

JUNI 2022

Familiebild

D Muetter isch am Lisme
De Sohn isch im Chrieg
D Muetter macht e kän Mucks
Und de Vater? Was macht de Vater?
Er gschäftet
Siini Frau lismet
Siin Sohn chrieget
Und er gschäftet
Er macht e kän Mucks de Vater
Und de Bueb? De Sohn?
Was macht de Sohn?
Er macht e kän Mucks de Sohn
Siini Muetter lismet siin Vater gschäftet er chrieget
Wänn er  fertig isch mit Chriege
Tuet er mit siim Vater gschäfte
De Sohn macht wiiter im Chrieg
D Muetter macht wiiter a de Lismete
De Vater macht wiiter im Gschäft
De Sohn wird töödt
Er macht e kän Mucks meh
D  Muetter und de Vater gönd uf de Fridhof
Sie mached e kän Mucks de Vater und d Muetter
S Läbe gaht wiiter mit de Lismete em Chrieg em Gschäft
Mit em Gschäft em Chrieg de Lismete em Chrieg
Mit dem Gschäft em Gschäfte em Gschäftle
Mit em Läbe für de Fridhof

Übersetzung von: Jacques Prévert, Familiale aus « Paroles »
In : Prévert «Gedicht uf Schwiizertüütsch» vom Heinz Wegmann, 1980

APRIL & MAI 2022

Die Kühe

Es war einmal ein Stier, der versprach all seinen Kühen
besseres Land und grüneres Gras.
Alles, was sie dazu bräuchten, seien stärkere Hörner, sagte er ihnen.
Die Kühe schauten sich mit ihren Kuhaugen bedeutungsvoll an
und nickten mit ihren Kuhschädeln.
Der Stier liess die Kühe härter arbeiten als bisher
und ihre Halsbänder enger schnallen.
Bald waren sie neu ausgerüstet: zuerst mit Langhörnern, dann mit Spitzhörnern,
dann mit Spiralhörnern und schliesslich mit Raketenhörnern.
Die Kühe wurden immer magerer von all den neuen, schwereren Hörnern.
Dem Stier aber ging es jeden Tag besser,
und bald hing das Bild des Stierenkopfs mit seinen triumphalen Nacken
und seinem schmierigen Lächeln in allen Kuhställen.
Als der Stier die ganze Hörnerpracht so vor sich versammelt sah,
schlug sein Stierenherz höher und er schickte die ganze Kuhherde
mit einem brüllenden Schrei in Richtung des Nachbarkuhlandes.
Augenblicklich und mit gestreckten Hälsen trabten die Kühe los,
in einen sinnlosen Kampf, aus dem nur wenige lebend zurückkehrten.
Der Stier überlebte, und er zettelt mit immer wieder neuen Kühen
immer wieder neues Unheil an.
Das ist es, was die Geschichte der Kuhheit uns Menschen lehrt.

(aus: «Aperitifgeschichten» IKOS-Verlag, 2002)

MÄRZ 2022

Die schweigende Mehrheit

Sie sassen in ihren Häusern, bei genügend Licht und in leise
dampfender Wärme, als draussen das Unwetter losbrach.
Zuerst bemerkten sie von alldem nichts.
Erst als das grelle Zucken der Blitze und das scharfe Bellen des Donners
immer gedrängter aufeinander folgten, hoben sie leicht die Köpfe,
sahen sich aber nicht in die Augen.
Schliesslich zitterten die Mauern ihrer Häuser, und sie mussten sich
an den schwankenden Möbeln festhalten.
Windstösse begannen voller Wut, die Dächer ihrer Häuser abzuheben.
Die hereinbrechenden Hagelkörner in der Grösse von Tennisbällen
erschlugen Haustiere und Kleinkinder.
Die Politiker trugen unterdessen auf den zuckenden Bildschirmen
äusserst besorgte Mienen zur Schau.
Noch immer rührten sich die Bewohner kaum,
kauten nur stumm die Glassplitter der geborstenen Scheiben
und suchten sich dann wortlos zwischen den Trümmern
den Weg zu ihren Betten, den Mund voll Blut.

(aus: «Aperitifgeschichten» 2002)

FEBRUAR 2022

The reason I write

The reason I write
is to make something
as beautiful as you are

When I’m with you
I want to be the kind of hero
I wanted to be
when I was seven years old
a perfect man
who kills

Warum ich schriibe

Ich schriibe
wil ich öppis
eso schön wett mache
wie du bisch

Wänn ich bi diir bin
möcht ich desäb Held sii
won i ha wele sii
als chliine Pfüdi
en Sibesiech
wo ales miech

(aus: Leonard Cohen Poems, Uf Züritüütsch vom Heinz Wegmann «Verrussen isch chalt», 2010)

JANUAR 2022

Sätze an einen kleinen Knaben

doch, doch,
auch ein Mann
darf ab und zu weinen;
verlerne es nicht,
das Weinen,
und wenn du dich klein fühlst,
lehne dich an;
und lehne dich auf,
wenn man dir sagt:
Das ist nichts für Knaben;
und glaube denen nicht,
die sagen:
Männer sind einfach so;
und lehne den Panzer ab,
und wähle die Puppe;
nur wenn du niemanden beherrschst,
wird dich nichts beherrschen;
etwas Rechtes werden
ist schon recht,
aber gesteh
deine Angst,
und schrei auf
unter dem Schmerz,
und zeig allen
immer wieder
die blauen Druckstellen
all over your little body.

(aus: Die kleine Freiheit schrumpft, 1979)

Sätze an ein kleines Mädchen

nein, nein,
du brauchst nicht immer
sofort zu weinen;
das Weinen ist nicht
deine einzige Waffe;
nicht immer
wird eine starke Hand
für dich da sein;
ab und zu
wirst du selber einen Hammer
zur Hand nehmen müssen;
vielleicht schlägst du dir dabei
auf deinen zierlichen Daumen;
süss sein
ist schon recht,
aber auch dies
wird dich nicht retten
vor dem Alleinsein;
glaube denen nicht,
die sagen:
Das gehört sich nicht
für eine Frau;
erhebe deine Stimme
und überrasche sie
mit der Stärke
deines Geschlechts.

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